Endlich umdenken!

Endlich umdenken!

„In Österreich wurde die höchste Suizidrate mit 2139 Personen im Jahr 1986 verzeichnet. Bis zum Jahr 2016 reduzierte sich diese Rate um 44 Prozent auf 1204 Personen, wobei der Rückgang bei Frauen stärker war als bei Männern...Allerdings ist diese Zahl von 1204 Personen noch immer mehr als zweieinhalbmal so hoch wie die Zahl der Verkehrstoten in Österreich.“ Das schrieb ich 2019 in meinem Buch „Über Sterben und Tod“ (Innsalz 2019). Zahlenspiele, nicht mehr.

Dier Realität holt uns ein. Immer wieder. Das Thema Suizid wird gern verschwiegen, auch in Österreich. Wenn sich auf einem unserer Bahngleise eine(r) aus Verzweiflung vor einen Zug wirft, hört man im Radio von einem „Rettungseinsatz“. In Wahrheit handelt es sich in beinahe allen Fällen um eine Leichenbergung unter schwierigen Umständen. Von Rettungseinsatz keine Spur. Über Suizid zu sprechen, ist in unserer Gesellschaft nicht schicklich. Das könnte ja darauf hindeuten, dass so Manches im Gemeinwesen nicht stimmt.

Theresia P. ist nicht mehr. Die 61jährige, kürzlich in Salzburg verstorben, einst durchaus begabte Pädagogin für Hauswirtschaft und Englisch, war eine Kollegin von mir. Sie war taff, talentiert, beliebt, schlicht: eine gute Lehrerin.

Einen Nachruf zu verfassen, möchte ich nicht wagen. Dazu habe ich sie zu wenig gekannt. Drei Dinge weiß ich aber: Zum einen gab es immer wieder Ereignisse in ihrem Leben, die ihr unglaublich nahe gingen. Zum Zweiten hat sie sich engagiert für Dinge, die ihr wichtig waren, etwa für das Repair-Cafe in Loibichl oder für die Landwirtschaft. In einem Leserbrief auf ML 24 hat sie einmal den Film „Die bäuerliche Welt des Mondseelandes“ kritisiert.
Aber in unserem Leben ist es halt so: Der Auftraggeber bestimmt die Botschaft. Dass sich Resi aber gegen den Strom zu schwimmen traute, war evident. Und ein Drittes: Sie kämpfte jahrelang mit ihrer Psyche. Ihre ärztliche Betreuung kann und will ich hier nicht kommentieren. Ich möchte aber noch einen für mich wichtigen Punkt ansprechen.

Wir brauchen neue Prioritäten
Aktuelle Medien berichten davon, dass die European Space Agency nun die Venus erforschen will. Super. Oder? Was erwarten wir uns davon? Vielleicht Aufschlüsse darüber, warum dieser Planet sich so von der Erde unterscheidet. Meine Frage ist: Setzen wir nicht falschen Prioritäten? Sollten wir uns nicht endlich damit beschäftigen, wie wir menschenwürdiges Leben auf diesem – unserem – Planeten ermöglichen, Obdachlosigkeit und Hunger beseitigen und Krankheiten als Geißel der Menschen bekämpfen. Stattdessen fliegen wir zum Mars, erforschen nach dem Mond auch die Venus.

Der Künstler Hans Mairhofer-Irrsee sagte einmal in einem Interview in Anspielung auf die Probleme der Erde zu mir, er halte die Mondlandung für das größte Lausbubenstück in der Geschichte der Menschheit. Naja, ganz so scharf würde ich das nicht sehen. Aber in Zusammenhang mit den Prioritäten menschlichen Handelns hat er sicher Recht.

Aber bleiben wir in Österreich. Psychotherapie auf Krankenschein wäre wahrscheinlich ebenso ein richtiger Ansatz wie mehr Geld für Jugendpsychiatrie oder Krankheitsforschung, mehr für Obdachlose und Armutsbekämpfung. Anders gesagt: Mehr Geld für das, was den Menschen in seinem Mensch-Sein quält und bedrückt. Sonst droht die von Sepp Leitner beschriebene psychische Notstandsgesellschaft bald Realität zu werden.

Bleibt noch die Frage, ob dieser Prioritätenwechsel mit der aktuellen Qualität unserer politisch Verantwortlichen zu leisten wäre. Ich habe da starke Zweifel.

Norbert Blaichinger

Veröffentlicht am 14.06.2021